Humboldt-Universität zu Berlin - Lebenswissen­schaftliche Fakultät - Institut für Psychologie

Ära KÖHLER (1922-1935)

Wolfgang KÖHLER (1887-1967 ) hatte sich mit seiner theoretischen Arbeit "Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand", deren Publikation 1920 auch von Max PLANCK und Albert EINSTEIN unterstützt worden war, nachdrücklich als Kandidat für die Nachfolge von Carl STUMPF empfohlen.1920 konnte KÖHLER als Institutsvorsteher in Vertretung des erkrankten Carl STUMPF die Leitung des Psychologischen Instituts übernehmen. Im April 1922 erfolgte dann die Berufung zum o.Professor ( zugleich Institutsdirektor) mit der Verpflichtung, "die Philosophie, insbesondere die Psychologie in Vorlesungen und Übungen zu vertreten".
An der Berliner Universität wurde KÖHLER zum weithin bekannten und anerkannten Repräsentanten der Gestaltpsychologie, einer Schule Frankfurt-Berliner Prägung (dies in Absetzung von anderen kontemporären strukturpsychologischen Konzeptionen). Diese Schule der Experimentalpsychologie galt international, besonders aber in den USA, dem wichtigsten Areal der neuen Psychologie, als interessanteste Entwicklung der Psychologie in Deutschland. Ausdruck solcher Wertschätzung sind wiederholte Vortragsreisen und Studienaufenthalte von Vertretern dieser Schule in den USA ( besonders KOFFKA ) und die Wahl KÖHLERs zu einem der beiden Eröffnungssprecher - der andere war I.P.PAWLOW- des 9. Internationalen Kongresses für Psychologie an der Yale University (USA).
Diese Schule formierte sich an Friedrich SCHUMANNs Institut in Frankfurt a. M., an dem STUMPFs Promoventen Kurt KOFFKA und Wolfgang KÖHLER Assistenten waren.

Max WERTHEIMER (1880-1943), der nach Studien in Prag, Berlin und Würzburg 1904 bei Oswald KÜLPE promoviert hatte, konnte im Herbst 1910 im SCHUMANNschen Labor seine Versuche über das Sehen von Scheinbewegung (das sogen. Phi-Phänomen) mit dem von SCHUMANN noch in Berlin entwickeltem Tachistoskop durchführen. Seine Versuchspersonen waren: Dr. W. KÖHLER, Dr. K.KOFFKA und Frau Dr. KLEIN-KOFFKA. Diese Untersuchung, insbesondere aber die Interpretation der Befunde durch WERTHEIMER, gilt als die Geburtsurkunde der Gestaltpsychologie. Max WERTHEIMER, der als philosophisch-theoretischer Kopf der Schule gilt, erhielt 1916 einen Lehrauftrag an der Berliner Universität. Nach seiner Umhabilitierung 1919 wurde er 1922 zum ao.Professor für Philosophie an die Berliner Universität berufen. In seiner Berliner Zeit formulierte WERTHEIMER die Gesetze der Gestaltpsychologie in zwei theoretischen Aufsätzen: "Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt" (1922 und 1923), publiziert in "Psychologische Forschung", dem 1921/22 begründeten Publikationsorgan der Gestaltpsychologen (Band 1, 1922), welches bis 1938 in 22 Bänden im Julius Springer Verlag erschien.1929 wurde Max WERTHEIMER als o. Professor Nachfolger von Friedrich SCHUMANN in Frankfurt und gemeinsam mit Adhemar GELB Institutsdirektor.

KÖHLER und WERTHEIMER initiierten vieldiskutierte wahrnehmungspsychologische Experimente, aus deren Resultaten die Gestaltpsychologen die empirische Evidenz für ihre theoretischen Positionen gewannen. Zwei besonders wichtige Vertreter der deutschen Psychologie nach 1945 promovierten mit solchen Untersuchungen im Jahre 1926: Wolfgang METZGER (von 1942 bis 1968 o. Professor und Direktor des Psychologischen Instituts der Universität Münster) und Kurt GOTTSCHALDT (ab 1946 o.Professor und Direktor des Instituts für Psychologie der Berliner Universität, dann Humboldt-Universität zu Berlin).
Kurt KOFFKA (1886-1941 ) war seit 1911 Ordinarius in Gießen, wo unter seiner Regie zahlreiche Experimente, vorrangig zur visuellen Wahrnehmung, durchgeführt wurden. Die Schule der Gestaltpsychologie hatte mit seinem Institut ein wichtiges Terrain gewonnen. Hinzu kam, daß K.KOFFKA bereits ab 1924 persönlich in den USA wirken konnte und dort zum anerkannten Propagandisten der Gestaltpsychologie wurde. KOFFKA war Mitherausgeber der "Psychologischen Forschung".
Die Gestaltpsychologen beschränkten sich jedoch nicht auf das Gebiet Wahrnehmung, sondern erweiterten die Perspektive auf Ausdrucksphänomene (Rudolph ARNHEIM, 1928), produktives Denken (Karl DUNCKER, 1935; Max WERTHEIMER, 1945 posthum) und Gedächtnis (Hedwig v. RESTORFF, 1933; Hellmut BARTEL, 1937).

Johannes von ALLESCH (1882-1967) vertrat in Lehre und Forschung, ab 1924 als Privatdozent, vorwiegend die Ästhetik und setzte diese in Beziehung zur Psychologie. Nach Ordinariaten in Greifswald (1928) und Halle (1930) übernahm er 1945 das renommierte Göttinger Institut.

Eine beeindruckende Kontinuität weist das von Kurt LEWIN entworfene Forschungsprogramm zur Handlungs-und Affektpsychologie aus ( zwischen 1927 und 1938 wurden 18 experimentelle Untersuchungen dazu in der "Psychologischen Forschung" publiziert).Kurt LEWIN (1890-1947) wurde nach seiner Habilitation ( 1920 ) planmäßiger Assistent in der von Hans RUPP geleiteten Abteilung für Angewandte Psychologie am Psychologischen Institut. LEWIN verfolgte prinzipiell das Ziel, die psychologische Theorie Praxis werden zu lassen und wandte sich daher konsequent einer gestaltpsychologischen Handlungskonzeption zu (Handlung als kleinste psychologische Analyseeinheit, Handlungsganzheiten).Im Gegensatz zu KÖHLER und WERTHEIMER ließ sich LEWIN auch von FREUDs dynamischer Aktionstheorie anregen. Einige seiner Berliner Publikationen waren sowohl für die Arbeitspsychologie als auch für die Pädagogische Psychologie wegweisend. Seine wichtigsten größeren Werke, denen er eine psychologische Feldtheorie zugrunde legte, erschienen allerdings erst ab 1933 in den USA.
1927 wurde LEWIN ao. Professor. LEWINs Einfluß auf Motivationspsychologie, Persönlichkeitspsychologie und Sozialpsychologie ist auch heute noch unübersehbar.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 hatte für das Psychologische Institut tiefgreifende Folgen: v. HORNBOSTEL wird die Lehrbefugnis entzogen, er emigriert im selben Jahr nach den USA; LEWIN hielt sich bereits als Gastprofessor in den USA auf, wird 1934 aus seiner Stelle an der Berliner Universität entlassen und verbleibt bis zu seinem Lebensende in den USA; Wolfgang KÖHLER beantragt 1934, nach mehrfachen Protesten resignierend, die Versetzung in den Ruhestand, wird aber erst 1935 entpflichtet und wirkt fortan in den USA; Karl DUNCKER (1903-1940 ) wird mit politischer Begründung (sein Vater war der Propagandist des Marxismus; Hermann DUNCKER ) das Habilitationsgesuch abgelehnt, er emigriert gleichfalls 1935. Auch Rudolph ARNHEIM, der später sehr bekannte Kunstpsychologe, emigriert 1933 nach den USA.1936 folgt Hans WALLACH. Nimmt man hinzu, daß auch Hedwig v. RESTORFF und Otto v .LAUENSTEIN nicht am Institut verbleiben können, daß Max WERTHEIMER und Adhemar GELB 1933 emigrieren und daß Kurt KOFFKA bereits seit 1927 in den USA arbeitet, so wird deutlich, daß nach 1933 das personale Fundament der Gestaltpsychologie fast vollständig weggebrochen war.
Wolfgang KÖHLER konnte die " Psychologische Forschung" noch bis 1938 herausgeben. So konnten noch ausstehende Dissertationen publiziert werden. Charakteristisch für KÖHLERs Position zum NS-Regime sind seine Nachrufe auf Erich Moritz von HORNBOSTEL und Adhémar GELB - beide starben 1935 im Exil - die unpaginiert in der "Psychologischen Forschung" abgedruckt wurden.